Erwartungskarren

Nach dem ersten Tag in Istanbul realisiere ich, wie immens meine Erwartungen an diese Stadt waren. Eine monströse Moschee, die über diese Millionen Stadt wacht, von jedem Ort der Stadt mahnend sichtbar. Dann dieser riesige Fluss, von bunten Lichtern gesäumt stolz durch die Stadt strömend. Mediterrane Straßenwindungen, die diese Metropole in eine romantische Szenerie zum flanieren verwandeln, seelenverwandt mit Barcelona.

Doch dieser erste Tag lässt den Karren meiner Erwartungen zunächst gepflegt gegen die Wand fahren. Ich erinnere mich, wie ich an meinem Ankunftstag über eine der großen Brücken Istanbul erreiche und mich wundere, wo denn diese Moschee sein kann. Doch zu diesem Zeitpunkt liegt das Verhältnis von Größe der Moschee zur Größe der Stadt für mich noch im Dunkeln. Die Unsichtbarkeit des Gotteshauses spricht nur für die Monstrosität dieser Stadt und nicht für die Nichtigkeit der Moschee. Die Vorstellung des strömenden Riesenflusses weicht der Wasserfläche, die in sich die Mündung zweier Wasserarme und somit die Verbindung zum Meer darstellt und somit das aquatische Herz der Stadt bildet. Es trennt die Stadtteile von einander und eint sie gleichzeitig durch diesen Mittelpunkt, der die drei Teile trennend verbindet. Auch das mediterrane Flair suche ich vergebens, doch die Stadt wird mir mit ihren verdreckten Straßen und den lachenden Menschen bald noch ein ganz anderes Gesicht zeigen.

Das Wetter trägt seinen Teil dazu bei, die ersten Tage in ein äußerst mittelmäßiges Licht zu setzen. Es ist leicht verhangen und gräulich und da ich ohne Karte unterwegs bin, irre ich etwas orientierungslos umher. Natürlich finde ich die Hagia Sophia und die Blaue Moschee, die man aus dem Dönerladen seines Vertrauens kennt, von den großen, scheinenden Postern. Ich bin auch eine Weile damit beschäftigt durch das historische Viertel zu laufen, aber schon bald biege ich auf die Seitenstraßen ab um die Nebenschauplätze zu erkunden.

Das ziellose Umherlaufen macht mich nicht so richtig glücklich, die mediterranen Straßen suche ich vergeblich und das Flanierfeeling will sich auch nicht einstellen. Die Stadt ist so riesig, dass sie mich bald davon überzeugt, das Flanieren aufzugeben und mich etwas zielgerichteter zu bewegen. Ich finde eine Reiseagentur und die beiden Männern an ihren Schreibtischen haben sogar tatsächlich einen Stadtplan von Istanbul. Glücklich über meine neugewonnene Orientierungshilfe fasse ich nun mein nächstes Ziel ins Auge: Essen. Und zwar günstig.

Ich nutze mein Anliegen um einen offensiven Kellner eines guten Restaurants mit einer Gegenoffensive zu überraschen. Wie in einigen anderen Ländern ist es in der Türkei üblich Angestellte vor der Tür zu platzieren, die dann entweder lautstark rufend oder mit einer subtilen Flirtstrategie Kunden von der Straße fischen.

Ich frage einen dieser Charmeure also nach günstigem Essen und nachdem er mir versucht einzureden, dass 30 türkische Lira (ca. 10,- €) für ein Essen doch relativ günstig sei, schüttelt er den Kopf und erklärt mir das Offensichtliche. Wo viele Touristen, da kein günstiges Essen.

Glücklicherweise finde ich doch um die nächste Straßenecke einen kleinen Dönerladen, der im oberen Stockwerk ein paar Sitznischen hat. Nach der finalen nährstöfflichen Befriedigung schöpfe ich neue Energie.

Ich versuche meine intrinsischen Kompasse mit den Informationen der Karte zu kombinieren. Ein Kompass ist beispielsweise: „Am Wasser ist es immer schön.“. Leider geht dieser nach hinten los. Am Wasser finde ich nur eine große Autobahn, Tankstellen und Industrieromantik. Ich bewege mich also wieder den Berg hinauf in Richtung der Moscheen. Auch hier in Istanbul sehe ich viele dieser dunklen Holzhäuser, die mich schon in Edirne an den wilden Westen erinnert haben. Wie ich später höre stammen diese Häuser noch aus der osmanischen Zeit, sie geben der Stadt wirklich einen interessanten Touch.

Ich nehme in einem Restaurant platz, wo ich das erste Mal einen Derwisch bestaunen darf. Sein Rock flattert bald in der Form einer Pyramide um ihn herum, drei Falten, die sich in ihrer Form so gut wie nicht verändern. Wirklich erstaunlich.

Danach mache ich mich auf den Weg nach Hause und komme mit dieser leichten Enttäuschung zu Hause an. Der Karren liegt in Trümmern, aber wie das immer so ist, fangen die zerborstenen Bretter schon langsam an sich zu etwas neuem zusammenzufügen. Denn Istanbul ist eben mehr als nur das ausgelutschte Bild der Hagia Sofia und der Blauen Moschee. Und was hinter diesem Symbol steckt, welche Bedeutung es hat, erschließt sich eben nicht nach der ersten Begegnung.